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Samir Hmayed – Ein Portrait



Es ist der 4. Juni 2020 und ich bin mit Samir in der Café Bar verabredet. Schon lange war ich nicht mehr in meinem Lübecker Lieblingsladen, denn es ist ein Tag inmitten der Pandemie und wir genießen die ersten Wiedereröffnungstage der Gastronomie. Vieles ist immer noch ein bisschen ungewohnt: Adresse hinterlassen, nur mit Maske auf’s Klo und diese leichte Unsicherheit, wann und wie man sich bewegen darf. Wir begegnen einander auf der kleinen Kreuzung vor der Bar und auch an uns sind die Spuren des viralen Weltgeschehens zu erkennen. Ich hatte mich im Zuge der Friseurschließungen fürs Wachsenlassen entschieden, Samir für die Heimtrimmung mit der Maschine. Es ist eine der Situationen, wie sie Samir und mich zum Schmunzeln bringt. Der oft so bizarre Alltag mit seinen wunderbaren kleinen Schmankerln. Und in Zeiten des Ausnahmezustandes häufen sie sich offenbar umso mehr.

An unserem kleinen Tisch verquatschen wir uns wie gewohnt schnell und es entfaltet sich Thema für Thema zwischen unseren Geistern. Meine Notizen für das Gespräch zu diesem kleinen Dossier werden erst nach einem Wechsel des Ortes ins nächste Café, zweieinhalb Stunden später, gebraucht. Die Unterhaltung sprudelt dahin und ich fülle fleißig das Manuskript über Samir, sein Leben und den Höhen und Tiefen darin; über sein Engagement und die Sinnhaftigkeit dieser Art, Arbeitskraft und -zeit zu investieren. Es sind schöne, aufreibende, inspirierende Gedanken und ich verlasse unser letztlich fünfstündiges Treffen mit großer Zufriedenheit. Einerseits, weil ich mir nicht hätte mehr erträumen können für eine Grundlage dieser Schrift und anderseits, weil ich wieder einmal eines dieser wunderbaren Gespräche führen konnte, die sich im Herzen gut und reich anfühlen.


Verwelkt


Der Juni ist für Samir und mich nicht nur ein Zeitpunkt in der globalen Seuche, sondern auch einer der ersten Lernmonate für unser zweites Staatsexamen der Medizin. Und so gehörte der Schreibtisch zwar zu unserem täglichen Begleiter, doch schob ich das Verfassen des Portraits stetig vor mir her. Es fühlte sich nicht gut an, es in dieser vereinnahmenden Zeit zu schreiben und ich spürte, dass ich mir mehr Raum und Muße dafür wünschte. Dennoch fand ich einen Tag im August, der mir geeignet schien, mich meinen Notizen aus dem Gespräch zu widmen. Gefüllt hatten sich fünf Seiten, manche doppelseitig beschrieben. Ich las erst linear, dann kreuz und quer. Doch je mehr ich las, desto weniger verstand ich von dem, was dort stand. Es fehlten mir die entscheidenden Erinnerungen aus dem Gespräch, um dieses mittlerweile kryptisch gewordene Dokument zu entziffern. Hinzu kam das Problem einer grausigen Handschrift, die sich gerade zu meinem eigenen Gegner aufbäumte. Die Blüten der bunten und bereichernden Gedanken lagen als verwelkte DIN A4-Blätter vor mir und ich ärgerte mich ein wenig, mich nicht direkt nach dem Gespräch ans Werk begeben zu haben. Mir war klar, dass ich mich mit Samir noch einmal austauschen musste. Das Examen rückte jedoch näher und wir stellten übereinkommend fest, dass ein erneuter Austausch nach der Staatsprüfung die beste Wahl sei.


Ambivalenz und Diversität

Und so kam es am 26. Oktober zu einem Telefonat über den europäischen Kontinent hinweg. Die Verbindung reichte von einem 60er Jahre-Cocktailsessel im beschaulichen Sauerland bis an den Lac de Monteynard, einen Stausee in Südfrankreich.


Samirs Aussicht in Frankreich
Hapes Spot im Sauerland

Wie gewohnt dauerte es ein Weilchen bis wir wirklich zur Sache kamen. Aber wie immer tat es gut, einfach erstmal drauflos zu quatschen. Dann entstand aber schließlich der Stoff, aus welchem dieser Text wachsen sollte:


Geboren und aufgewachsen ist Samir Hmayed in Hamburg im Stadtteil Steilshoop im Bezirk Wandsbek. Eher nördlich, umgeben von Barmbek, Bramfeld, dem Olsdorfer Friedhof und Alsterdorf. Man fährt mit der S1 dran vorbei, wenn man zum Flughafen will. Ein Plattenviertel dessen Migrantenanteil, Arbeitslosigkeit und Hartz IV-Empfängerzahl allesamt über dem Hamburger Mittel liegen. Unter dem Mittel liegt hingegen vor allem das durchschnittliche Einkommen. Ein sozialer Brennpunkt, wie Samir ihn nennt. »Ich habe früh eine Distanz zu diesem Ort verspürt und mich nie richtig wohl gefühlt.« Samir ist mit einem großen, eher migrantisch geprägten Familien- und Bekanntenkreis aufgewachsen. Als Kind eines libanesischen Vaters und einer Mutter aus der Eifel spricht Samir perfektes Deutsch und merkt selbst, dass sich seine sprachlichen Fähigkeiten, von denen seiner Mitmenschen unterscheiden. Genau so wurde ihm klar, dass dies auch den anderen Kindern auffiel und es kam in ihm das Gefühl auf, dass etwas zwischen ihm und seinem sozialen Umfeld stand.

Mit dem Wechsel an das Gymnasium Osterbek erlebt er jedoch das inverse Abbild seiner bisherigen Sozialerfahrungen. Das fließende Deutsch ist hier keine Besonderheit mehr. Wohl aber sein Aussehen und jenes von einem halben Dutzend anderer Mitschüler. »Die Araber« mussten sich die Terroristenwitze anhören.

Samir beschreibt mir die Ambivalenz seiner elterlichen und kulturellen Diversität und wie sie sich seit jeher in seinem Selbstbild verhaftete; dazu seine Versuche, sich vor allem mit dem Beginn seiner Uni-Zeit deutlicher anzupassen: »Ich hatte das Gefühl, äußerlich ›deutscher‹ – seriöser – wirken zu müssen, um ernstgenommen zu werden. Eben ein Hemd statt Umhängetasche und Pulli.«


Die Päckchen


Wer Samir näher kennt weiß, wie wichtig ihm Freundschaften sind. Als ausgesprochen sozialer, geselliger und sympathischer Mensch erweiterte er seine Kreise über die Jahre stetig und lernte dabei auch Freundinnen und Freunde kennen, die ihn bemerken ließen, dass, wie er sagt, »man Päckchen trägt, die andere nicht unbedingt tragen müssen«. Er meint damit vor allem Menschen wie er selbst, deren Biografien ihre Wurzeln ganz oder teilweise in anderen Ländern als Deutschland haben. Es sind gemeinsame Erfahrungsspektren, welche sie verbindet und für ein besonders Verständnis sorgt, das viele andere Freunde in diesem Maße selten erreichen würden.Dass auch ich zu diesen anderen gehöre, wurde mir bewusst als Samir sagte: »Es gibt Menschen, mit denen ich mich aus einer gemeinsamen Perspektive heraus über Alltagsrassismus austauschen kann.« Ich frage ein bisschen zurückhaltend, ob er denn auch heute diesem Rassismus ausgesetzt sei. Eine winzige Zeit der Stille lag über der deutsch-französischen Verbindung, die lang genug war mir zu signalisieren, dass diese Frage anders war als die Vorherigen. Als Sohn zweier deutschstämmiger Eltern fehlt mir der Blick auf eine Situation, die wir ein wenig später im Gespräch übereinstimmend als grotesk beschrieben. Wie kann es sein, dass zwei Menschen wie Samir und ich, die sich in so vielen Hinsichten ähnlich sind, sich in einer bestimmten Welterfahrung in einem derartigen Maß unterscheiden? »Erst vor sechs Wochen kam ich aus dem Supermarkt, und es warfen mir zwei Typen beim Vorbeigehen das Wort ›Kanake‹ entgegen.«



Vom Sehen und Handeln


Ich wollte herausfinden, wohin ihn seine Biografie leitete und welche Herzensprojekte er vorantrieb und -treibt. »Ich sehe zwei Kinder, die im gleichen Krankenhaus geboren werden und weiß, dass ihre Leben erstmal vorgeschrieben sind. Da geht es um Geld, um Bildung, um Rassismus, um Sexismus. Um Dinge, die ein Kind in erster Linie nicht beeinflussen kann, die aber maßgeblich bestimmen, wo die Reise hingeht.« Es ist das Bild zu Samirs Leitthema, der Chancengerechtigkeit.



Schüler*innen und Studierende kommen bei einer der vielen ROCK YOUR LIFE! Begegnungen zusammen.


»Unter meinen Großeltern waren Analphabeten und Müllfahrer und ich bin in ein paar Monaten, wenn alles gut läuft, promovierter Arzt. Zwei Generationen hat es für diese Entwicklung gebraucht. Ich möchte diese vertikale Mobilität anderer Menschen fördern.«


Ein Kindheitstraum wird erfüllt: Eine Famulatur an der renommiertesten Uni-Klinik des Nahen Ostens. Im Libanon gilt: Wer am AUBMC arbeitet, hat es geschafft.



Nun kenne ich Samir schon fast auf den Tag genau seit sechs Jahren. Seit diesem Kennenlernen habe ich unter großer Achtung erlebt, mit wie viel Herzblut und Zielstrebigkeit er sein mannigfaltiges Engagement vorantreibt. Dazu gehörten Tätigkeiten als stellvertretendes bürgerliches Mitglied im Jugendhilfeausschuss der Lübecker Bürgerschaft oder als Mitglied des Verwaltungsrats des Studierendenwerks. Samir war zwischen 2017 und 2019 Gründer und Präsident der Lübecker Gruppe „Universities Allied For Essential Medicines“, einer global aktiven Organisation, die sich für den gerechten Zugang zu Medikamenten einsetzt, sowie Gründer und Vorstandsvorsitzender von ROCK YOUR LIFE! Lübeck e.V. zwischen 2015 und 2018.



Aktion für globalen Zugang zu Medikamenten, UAEM Deutschlandkonferenz 2017 in Lübeck



Bei allem Engagement gehe es ihm darum, etwas zu bewirken und er betont, wie oft er in Situationen hineinkäme, in denen er sich die Frage stelle, ob er denn wirklich der erste sei, dem dieser oder jener Missstand auffiele. »Es muss doch schon mal jemanden gegeben haben, der sich dasselbe gefragt hat.« Und er berichtete mir von einigen Beispielen wie dem Oberarzt, welcher der Assistentin einen sexistischen Spruch um die Ohren haut und Samir ihn daraufhin zur Rede stellt. »Er wirkte überrascht. Es kann doch nicht sein, dass ich der erste bin in seinen 20 Dienstjahren.«


Selbst ein bisschen verblüfft und nachdenklich saß ich nach diesem Satz dort auf meinem Cocktailsessel im Sauerland und überflog nach einer kurzen Denkpause meinen Notizzettel auf der Suche nach offengebliebenen Fragen. Unten, in der Ecke des Blattes, fand ich noch ein Wort: »Motivation«. Wie hatte ich es übersehen können? Ich erwartete, mit meiner Frage ein größeres Kapitel aufzustoßen. Doch Samirs Antwort war prägnant und vielleicht dann doch so, wie ich sie von ihm erwartet hatte: »Es gibt Dinge, die müssen nicht sein.«



Lübeck im Oktober 2020; Hape Grobbel








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