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Mourad Zoubir – Ein Portrait

Aktualisiert: 23. Mai 2020



»Hallo Mourad, grüß’ dich! Ich bin jetzt gerade auf dem Weg zum Kaffeehaus, ehhm, ich befürchte, dass ich ein paar Minuten zu spät komme. Eh, mach es dir schon mal gemütlich. Ich beeile mich und, genau, bin dann gleich auch da. Kannst ja nochmal schreiben, wo du ungefähr sitzt. Dann bis nachher.« Eilig haste ich durch die Gassen der Hansestadt und verschicke die Sprachnachricht kurz bevor ich in die Hüxstraße einbiege. Prompt kommt die Antwort mit Bild. »Bis gleich. Bin erstmal auf einer der Bänke am Weg«


Mit nun zwei Kaffeebechern in der Hand mache ich mich weiter auf den Weg zum Krähenteich und werde Schritt für Schritt merklich ruhiger und spüre, wie sehr ich mich das anstehende Treffen mit Mourad freue. Ich genieße die Sonnenstrahlen dieses warmen Frühsommertages, die mich auf den letzten Metern begleiten. Schon aus der Ferne erblicke ich ihn auf der Bank, von welcher aus er mir sein Foto geschickt hatte. Beim Näherkommen grinsen wir uns an. Obwohl wir uns eine ganze Zeit nicht gesehen haben, herrscht die gewohnte Vertrautheit zwischen uns. Verändert hat er sich kaum. Mourad ist ein Mann der Ausgeglichenheit. Die kurz geschorenen Haare mit militärisch kühlem Akzent gehören zu einem gütigen, besonnenen und gelassenen Gesicht. Das Polohemd findet eine Balance im Pragmatismus seiner Sportschuhe, die er kurzerhand auszieht, als er sich auf einen Sonnenplatz im Schneidersitz auf die Wiese setzt. Ich tue es ihm gleich.


Sich aufmerksam treiben lassen


Es dauert keine Minute und unser Gespräch nimmt rasant Fahrt auf. Direkt sind wir im Kern des Themas. Wir sprechen darüber, was Menschen antreibt, sich zu engagieren. Fragen uns aber auch, wo die Gründe liegen, dass manch eine Person zusätzlichen Verantwortungsbereichen absagt. Wir sehen schnell ein, dass die allgemeine Betriebsamkeit im Pflichtteil des Lebens in den vergangenen Jahren sicherlich nicht ab-, sondern vielmehr zugenommen hat.

Womit er sich selbst im Moment beschäftige, möchte ich wissen. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Multimediale und Interaktive System sei er derzeit tätig. Das Studium der Psychologie habe er im Dezember mit dem Master abgeschlossen und arbeitete nun an seiner Doktorarbeit. Es sind für mich gänzlich neue Begriffe, mit denen er seinen Themenbereich beschreibt: Ingenieurspsychologie, Human Energy und Job Crafting. Im Kern gehe es darum die Größe der subjektiven Gesamtenergie messbar zu machen, die ein Mensch für die Arbeit verwendet. Es gebe nämlich zusätzlich zur herkömmlichen, tatsächlichen Größe eine subjektive Form der Energie, die wir bei allen Prozessen wahrnehmen – mal mehr, mal weniger, und nicht immer der Realität entsprechend.

Schon vorher war mir bewusst, dass Mourad ein Mensch ist, der die ungewöhnliche Herausforderung sucht und dennoch stellt sich mir die Frage, wie er den Weg in das Institut gefunden hat. Er berichtet mir von einem Bildungsprogramm, an dem er zwei Jahre zuvor teilgenommen hatte und über welches er seinen Doktorvater kennenlernte. Es sei eines der Beispiele, wo der Zufall eine herrliche Rolle gespielt habe; sich das aufmerksame ›Sich-treiben-lassen‹ wieder einmal gelohnt habe und er keinesfalls bereue, nun diese Version der Fortsetzung seines Lebens zu erfahren.


»Der Wunsch, geradegebogen zu werden«


Es ist ein Leben, welches im Februar 1988 in Bochum begann und ihn im Alter von 4 Jahren mit seiner Familie nach Australien führte, wo er zusammen mit seiner Schwester und seinem Bruder aufwuchs. Sein Vater stammt aus Algerien und ist heute Professor für Elektrotechnik. Seine Mutter ist Deutsche und arbeitet derzeit als Pflegekraft in Darmstadt.

Als er 15 Jahre alt ist, geht es zurück nach Deutschland, wo eine für ihn schwierige Zeit beginnt. Nur mit Mühe kämpft er sich durch ein Jahr der Gesamtschule. »Ich glaube heute heißen sie Integrationsklassen – Deutsch als Fremdsprache«, sagt Mourad. Später schwänzt er fast gänzlich und driftet ab. Es sei viel von dem dabei gewesen, was Eltern enttäuscht. Im Alter von 18 Jahren zieht er die Reißleine, lässt sich mustern und bei der Bundeswehr in Eckernförde einziehen.

Den Grund dafür erklärt er mir mit einem Satz, an den ihn sein Vater Jahre später erinnern musste, weil er selbst ihn verdrängt hatte. Es sei der Wunsch gewesen, »geradegebogen zu werden«.

Teil der Besatzung – Fregatte SH
Vessel Protection Detachment der FGS Schleswig-Holstein, 2010

Mich beeindruckt diese außergewöhnliche Entscheidung enorm und ich frage gespannt, wie es dann weiterging. Nach der Grundausbildung gelangt er zu den Marineschutzkräften, wo sein Wunsch nach Auslandseinsätzen wahr wird. Auf der Fregatte Schleswig-Holstein bereist er viele Monate lang die südlichen Weltmeere unter anderem, um Handelswege zu sichern. Eine wichtige Schlüsselsituation sei für ihn gewesen, als sie wieder Piraten »Hops nahmen«, um sie an Kenia auszuliefern. Er habe erkannte, dass ein Grund identisch war, weswegen die Kameraden und er sowie die Piraten, die etwa im selben Alter wie er waren, in dieser Situation waren. Sie taten es zum großen Teil wegen des Geldes. Nur habe er eine Wahl gehabt hier zu sein, und sie wahrscheinlich nicht. Dieser Moment prägte ihn so sehr, dass es heute die erste Geschichte von dieser langen Reise ist, die er mir erzählt.

Der Zeit beim Bund schließt sich eine Ausbildung zum sozialpädagogischen Assistenten an, die ihm die Tür zum Fachabitur öffnet. Eigentlich sei es sein Plan gewesen, den Weg des Kindergärtners weiterzugehen, obwohl ihn ein Psychologiestudium in dieser Zeit sehr interessierte. »Ich war davon überzeugt, nicht gut genug zu sein.« Ihm fehlte es an Selbstvertrauen und er vermutet heute, dass es der Mangel an positiven Erfahrungen schulischer Erfolge war, der ihn so denken ließ. Es brauchte einen Anstoß – und der kam. Es war ein Lehrer, der ihn entschlossen ermutigte. Dieser Mann glaubte an ihn mehr als er selbst es tat und sprach ihm so sehr Mut zu, dass nun das Abitur der nächste Schritt für ihn wurde. Es war der Grundstein für das Studium, welches für ihn 2014 in Lübeck begann.


»Du wirst überrascht sein, wie viel du bewegen kannst!«


Mit diesem Satz zitiert die Studierendenzeitung ›Studentenpack‹ Mourad im Jahr 2018 in einem Interview. Der Grund ist die Verleihung des Preises für studentisches Engagement an der Universität zu Lübeck. Dieser Preis würdigt sein jahrelanges und vielseitiges Ehrenamt und begründet sich durch den Aufbau der Fachschaft Psychologie, seiner Tätigkeit als Gründungsvorstand von ROCK YOUR LIFE! Lübeck e.V. und der Initiierung von Study Hacks, einer Plattform, die Studierende beim Lernen unterstützt. Es ist eine Anerkennung für vier Jahre, in denen Mourad neben dem normalen Programm des Studiums Ideen und Tatendrang so vereinte, dass immer wieder etwas entstand, was uns allen zugutekam und noch heute zugutekommt.


Fachschaft Psychologie
Fachschaft Psychologie

In der Laudatio des Preises heißt es, Mourad Zoubir engagiere sich »wahnsinnig« und ich möchte von ihm wissen, wie viel Wahnsinn wirklich in dieses Engagement gehörte. Seine Antwort darauf ist ernster als ich es vermutet hatte. Eine wichtige Aufgabe sei es für ihn gewesen, sich selbst auf diesem Weg kennenzulernen. Es war entscheidend zu erfahren, was er wirklich schaffe und wie er seine Ressourcen regulieren könne. Nein zu sagen sei sehr wichtig. 2016 kam es dann fast zu einem Burnout. »Ich stand da im Treppenhaus auf dem Weg in die WG. Es überkam mich mit voller Wucht und ich wusste nicht, wie ich die Stufen hinaufgehen soll. Es ging nichts mehr. Es war zu viel. Ich wusste, dass ich mich entscheiden muss.« Mourad entschied sich für die Achtsamkeit zu sich selbst. Er drückt seine Hand in die frische Wiese zwischen uns. »Ich begann, Übungen in mein Leben einzubauen, die mir zeigen, wo ich gerade bin und was ich gerade tue – um im Hier und Jetzt zu bleiben. So etwa wie bei diesem Gras. Es wirklich zu spüren macht den Unterschied in der Wahrnehmung«. Es half ihm und gab ihm Struktur zurück. »Jetzt denke ich, dass ich dadurch einen inneren Therapeuten gewonnen habe, der mir sagt ›pass auf!‹ und der mich leitet.« Es ist dieser Grenzgang, den er heute als »ausgesprochen wertvoll« für seine Selbstfindung beschreibt.

Und so betont er auch zum Ende unseres Gespräches noch einmal, wie wichtig es ihm ist, für das Engagement und die Beteiligung zu werben. Auf meine Frage hin, wie es denn den Blick auf die Verantwortlichen ändere, wenn man selbst Verantwortung übernehme, greift er zum Stift und zeichnet ein paar Linien auf die Manschette seines Kaffeebechers und erklärt mir: »Die Y-Achse zeigt den subjektiv wahrgenommenen Grad des Wissens und des Selbstvertrauens an. Auf der X-Achse siehst du das tatsächliche Wissen.« Er zeichnet eine steil ansteigende Kurve dort hinein, die sofort wieder rapide abfällt und dann erst wieder langsam zu ansteigt. Der Dunning-Kruger-Effekt zeige, dass ganz zu Anfang einer Wissensaneignung das Gefühl entsteht, einen Überblick über das Thema zu haben. Mit weiterem Wissenszuwachs werde jedoch deutlich, dass dies eine Illusion gewesen ist. Erst danach steige das Wissen wahrhaftig und nachhaltig an. »Wenn man weiter unten in der – nennen wir es ›Verantwortungshierarchie‹ – ist, sieht man häufig nicht, wie komplex die Entscheidungen sind, die getroffen werden müssen. Je mehr man z.B. in die Gremien-Arbeit eintaucht, desto mehr erkennt man, wie viele Faktoren und Abhängigkeiten in der Realität existieren.«

Verantwortung zu übernehmen und sich einzubringen, so habe ich Mourad verstanden, ist eine bereichernde Lebensaufgabe. Nicht nur für die Anderen, sondern zu einem großen Teil auch für sich selbst.

Lübeck im Mai 2020; Hape Grobbel







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