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Clara Weber

Aktualisiert: 27. Okt. 2020




„Zwei Mandelhörnchen, zwei Buttercroissants und eine Mohnschnitte, bitte“, sagte ich zu der Verkäuferin. Sie füllte eine Papiertüte und packte den Kuchen sorgsam ein.

„Noch einen Wunsch?“

„Nein danke, das ist alles.“

15:10 Uhr, also hatte ich noch zwanzig Minuten, bis ich bei Clara sein wollte – perfekt. Ich verstaute das Essen in meinen Satteltaschen und fuhr los.

Da das Wetter trübe war und es ständig schauerte, hatten wir uns für ein Kaffeetrinken in Claras Wohnung verabredet. Als ich die Treppen in den dritten Stock hinaufstieg, kam Vorfreude in mir auf. Wir hatten uns länger nicht gesehen und die Gespräche mit ihr waren immer sehr spannend und abwechslungsreich.



Clara Weber


Clara öffnete die Tür und wie schon erwartet und erhofft, strahlte mir eine Mischung aus kindlich reiner Freude, sympathischer Verplantheit und nicht zu unterschätzender Zielstrebigkeit entgegen.

Wir begrüßten einander herzlich und begannen, gleich davon zu erzählen, wie es uns in den letzten Wochen, inmitten der Corona-Einschränkungen, ergangen war.

Während ich die neugewonnene freie Zeit sehr genoss, vermisste Clara die Regelmäßigkeit des Universitätsalltags und empfand die heimische Isolation als eintönig und demotivierend. Zudem nun unsicher war, wann und wie ihr Auslandsjahr in Yale stattfinden könne, wo sie im Rahmen einer Doktorarbeit an einem Forschungsprojekt im Bereich der Schnittstelle zwischen künstlicher Intelligenz und der Autismusforschung arbeiten wird.

Dass Clara als Medizinstudentin vom menschlichen Gehirn fasziniert ist, wird einem spätestens klar, wenn man sich in ihrem Zimmer umschaut. Neben einem schicken Rennrad und einer Geige, finden sich allerhand selbst gemalte Zeichnungen an der Wand. Sei es das Gehirn als anatomische Zeichnung selbst oder das Symbol einer Figur ohne Kopf – die menschliche Schaltzentrale hat es ihr angetan. Das Highlight ist eine eingerahmte Bildersammlung einer MRT-Aufnahme ihres eigenen Gehirns, welche sich wohl nicht zufällig im Hintergrund eines kleinen Beistelltisches befindet, von welchem aus sie derzeit an Videokonferenzen und Online-Meetings teilnimmt.

Mithalten können mit dieser Präsenz der Begeisterung für die Medizin nur die zahlreichen Startnummern verschiedener Läufe, welche eine weitere Wand des Zimmer prägen. Unter ihnen befinden sich auch einige Marathon-Startnummern, welche mich jedes Mal an die Mischung aus Durchhaltevermögen - und in meinen Augen purer Verrücktheit - erinnern, die Clara für mich symbolisiert.


„Du findest für alles eine Quelle – doch das macht es noch lange nicht wahr.“

Nachdem wir uns einen Tee zubereitet und das ein wenig in Mitleidenschaft gezogene Gebäck auf Tellern platziert hatten, setzten wir uns in das Wohnzimmer der Zweier-WG und kamen nach der anfänglichen Freude des Wiedersehens ein wenig zur Ruhe.

Früher an diesem Tag hatte ich auf Claras Facebook-Profil vorbeigeschaut. Neben den gewohnten Posts über ihre Tätigkeiten bei UAEM und dem Jugenddemokratiepreis der Bundeszentrale für politische Bildung, fand ich spannende Auseinandersetzungen in den Kommentarspalten diverser Facebook-Posts, in denen Clara die Verfasser zu einer faktenbasierten Argumentation aufforderte. Als ich sie darauf ansprach und fragte, was es denn es mit diesen Unterhaltungen auf sich hätte und was sich daraus ergeben habe, begannen ihre Augen zu leuchten – ich schien einen leidenschaftlichen Punkt getroffen zu haben.

Die Art und Weise wie über soziale Netzwerke Meinungsäußerung betrieben werde, mache ihr große Sorgen. Besonders erschüttere sie, dass auch berufliche Journalisten, wie Politiker und Studierende der Geistes- und Naturwissenschaften sich unseriöser Quellen bedienten und Behauptungen aufstellten, welche einfach nicht belegt seien. Sie habe neben dem Studium mit großen Interesse Workshops und Seminare zu diesem Thema besucht und versuche seitdem aktiv gegen diese Art der Meinungsäußerung vorzugehen.

„Du findest für alles eine Quelle – doch das macht es noch lange nicht wahr.“, sagte sie mir mit festem Blick und energischer Stimme. „Es geht um wissenschaftliche Arbeitsweisen, darum, eine These aufzustellen, welche wir mit Experimenten und Daten zu belegen versuchen. Und diese Arbeit wird dann noch peer reviewed. Da schauen so viele Leute mit Ahnung und kritischem Blick drauf, bevor es veröffentlicht wird. Das ist ein richtig ausgeklügeltes System! Und dann kommen da Leute, die einfach Spekulationen in die Welt hinausposaunen und einen Zeitungsartikel, eine Meinung, als Beleg heranziehen. Das ist nicht nur unwissenschaftlich, das ist gefährlich!“

Ich musste lächeln und als Clara merkte, wie laut und leidenschaftlich sie gerade geworden war, musste sie es auch.



„Ich erkannte mein Privileg und es erschien verwerflich, es nicht zu nutzen.“


Das erste Mal fiel mir Clara auf, als sie sich gleich zum Beginn unseres Medizinstudiums im Oktober 2017 als Semestersprecherin zur Wahl aufstellen ließ. Mutig, dachte ich mir damals, da es sicherlich einige Leute gab, die einen solchen Menschen direkt als „unsympathisch“ und „übermotiviert“ abstempelten. Im Sommer 2018 besuchte ich Clara dann das erste Mal bei ihren Eltern zu Hause in der Nähe von München. Vorher waren wir gemeinsam Betreuende einer Freizeit der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DMG) gewesen, welche gleich in der Nähe, am Ammersee, stattgefunden hatte.

Clara zeigte mir ihre alte Schule und ihre Laufstrecke in der Heimat. Wir machten einen Wanderausflug auf die Brecherspitz und besuchten die Gedenkstätte des KZ Dachau.

Sie erzählte mir, dass sie nie in das Konzept Schule hineingepasst hatte, obwohl sie sehr gute Noten schrieb. Sie setzte sich dafür ein, an anderen Bildungsprojekten teilnehmen zu können und so sah eine „Schulwoche“ für sie manchmal so aus, dass sie montags bis mittwochs an einem Förderprogramm des Fraunhofer Instituts in Bremen war, donnerstags in der Schule saß und freitags an einem Projekt teilnahm, welches ihr ermöglichte, Vorlesungen an der Ludwig-Maximilian-Universität München zu besuchen. Sie hat es nie bereut, die Dinge „anders“ zu machen, sagte sie.

Während Clara ein Stück ihrer Mohnschnitte aufgabelte, musste ich an diese Erinnerungen zurückdenken und ich fragte mich, was sie antrieb. Was hatte sie dazu gebracht, schon so jung andere Wege zu gehen? Sich schon so früh für andere Dinge zu interessieren und einzusetzen?

Also fragte ich sie.

„Ein Moment, welcher mich sehr geprägt hat, war, als ich die letzte Rede von Gregor Gysi als Fraktionsvorsitzender im Bundestag hörte. Da muss ich so 15 oder 16 gewesen sein. Er sprach davon, welches Deutschland er sich wünsche,davon, dass jedes Kind die Chance haben sollte, in ein Museum, in das Theater oder ins Ballett zu gehen. Doch dass dies zurzeit nicht so sei. Zurzeit sei genau das ein Privileg.In diesem Moment merkte ich, dass ich all das, wovon er sprach schon erlebt hatte. Ich wusste wie ein Theater von innen aussieht, ich war regelmäßig in Museen und mit meinen Eltern sogar schon in der Oper gewesen. Doch hier endeten meine Möglichkeiten nicht. Ich hatte die Chance und die Zeit, mich in einem Mehrgenerationenhaus in Puchheim zu engagieren, ich konnte an Förderprogrammen teilnehmen. Ich erkannte mein Privileg und es erschien verwerflich, es nicht zu nutzen.“

Ich war beeindruckt und fasziniert davon, wie ein so kleiner Moment dazu ausgereicht hatte, so große Gedankengänge in Clara auszulösen und, dass sie den Mut gefunden hatte, die ihr gegebenen Möglichkeiten nicht an sich vorbeiziehen zu lassen, sondern zu nutzen.



„Wenn mir etwas passiert, dann bin ich gerne dabei.“


Während Clara sich mit der Mohnschnitte zu begnügen schien, schlug mein Herz für die Mandelhörnchen und Croissants und ich musste mich beherrschen, nicht alles aufzuessen. Doch ich hatte mir fest vorgenommen, Claras Mitbewohnerin etwas übrig zu lassen.

„Wie siehst du andere Menschen mit ihren Privilegien umgehen?“, fragte ich Clara nach einer Weile. „Ich meine, nehmen wir unsere Gruppe der Studierenden, wir sind doch alle privilegiert oder nicht?“

„Auf jeden Fall! Für mich sind hier zwei Dinge entscheidend. Zum einen glaube ich, dass viele Menschen ihre Privilegien wahrnehmen. Zum Beispiel studieren wir ja beide und nutzen damit die Möglichkeit, die uns gegeben wird. Doch wie bewusst nehmen wir unsere Privilegien wahr? Empfinden wir sie überhaupt als Privilegien oder ist es für uns einfach alles „normal“? Das ist der erste Punkt. Zum anderen glaube ich, dass eine „Freiheit zu“ auch immer eine „Freiheit von“ bedeutet. Es ist niemand gezwungen, seine Privilegien wahrzunehmen. In diesem Zusammenhang fällt mir ein Satz von Albert Camus ein:

Wenn mir etwas passiert, dann bin ich gerne dabei.“,schreibt er.“

„Und was meint er damit?“, fragte ich.

„Für mich bedeutet der Satz, dass wir niemals außerhalb der Gesellschaft stehen. Egal was wir tun, egal in welche Richtung sich unsere Gesellschaft entwickelt, wir sind immer Teil von diesem Wandel. Ob wir unsere Privilegien nun bewusst wahrnehmen oder nicht.“



Im Slack-Channel mit 20.000 Menschen


Im Januar dieses Jahres waren Clara und ich Teil des Organisationsteams der Themenwoche „Katastrophenhilfe“ an der Universität zu Lübeck. Die Woche war, zumindest aus Sicht der Teilnehmendenzahlen, ein Flop. Leere Hörsäle und ein Interkultureller Abend, welcher zum Großteil aus den teilnehmenden Projekten selbst bestand, waren ein großer Dämpfer für unser beider Motivation. Viele Stunden Planungsarbeit und Einsatz vor Ort schienen entweder schlecht gemacht, als Thema einfach nicht von Interesse gewesen zu sein oder an sich keine Wertschätzung verdient zu haben.

Dies sind die traurigeren Stunden des Engagements und während meiner zweiten Tasse Tees erzählte Clara mir, dass sie im Anschluss an die Themenwoche in ein Loch gefallen war, in welchem sie zunächst wenig Motivation aufbringen konnte, etwas Neues anzufangen.

Sie hatte das Gefühl, dass um sie herum wenig passierte. Dass es wenige Menschen gab, die sich für ihre Überzeugungen einsetzen.

Doch dann kam Corona und mit dem Virus begann eine Welle des freiwilligen Engagements über Deutschland hinwegzurollen. Überall entstanden kleine Initiativen und Clara meldete sich für den Hackathon #wirvsvirus an.

„Erik, stell dir vor du kommst in einen Slack-Channel und dort sind einfach über 20.000 Menschen! Es ging absolut drunter und drüber! Überall schrieben Leute rein, welche Unterstützung sie bieten können. Da waren Juristeninnen, Ärzte, Bürgermeisterinnen, IT-Studierende, Politiker, Auszubildende, Schülerinnen. Einfach alle. Und alle hatten Bock, zu helfen! Das war einfach der Wahnsinn!“

Und da war es wieder. Das Leuchten in Claras Augen, ihre Stimme war bestimmter geworden, ihr Blick eindringlich und voller Energie.


Als ich wieder an meinem Fahrrad stand, schaute ich auf die Uhr – es war kurz nach sechs. Knapp zweieinhalb Stunden hatten wir geredet. Das Leuchten aus Claras Augen wirkte noch in mir nach und wie so häufig nach unseren Gesprächen, fuhr ich mit einer Vielzahl inspirierender Gedankenanstöße nach Hause.


Lübeck im Juni 2020, Erik Jentzen

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